Mikrobiome überall. Wie es scheint, sind wir nicht nur an der Oberfläche, zu der der Darm auch gehört, mit Bakterien oder besser Mikroorganismen bewachsen. Auch Gewebe, die bislang als steril galten, scheinen ihre eigenen Mikrobiome zu haben. Und nun stellen sich Forschende die Frage, ob es ein Hirn-Mikrobiom gibt. Haben wir Bakterien im Kopf?
Was deutet auf ein Hirn-Mikrobiom hin?
Rosalinda Roberts fotografiert Bakterien im Gehirn
Auf einer Tagung der Gesellschaft für Neurowissenschaften präsentierte Rosalinda Roberts, mittlerweile emeritierte Professorin der University of Alabame at Birmingham (UAB), ein Poster, das Bakterien in einem gesunden Gehirn zeigte. Eine Studentin in Roberts‘ Labor hatte einige Jahre zuvor stäbchenförmige Strukturen in Gewebeschnitten entdeckt. Niemand hat es damals interessiert, aber wie sich herausstellte handelte es sich tatsächlich um Bakterien. In 34 von 34 Gewebeproben aus Gehirnen fanden die Forschenden irgendwo Bakterien.
Wie sich herausstellte gehörten die meisten dieser Bakterien einem der Stämme an, die auch im Darm vertreten sind: Firmicutes, Proteobacteria, und Bacteroidetes.
Es könnte sich um Artefakte handeln. Hausnummern, die man misst. Die Bakterien könnten die Proben in der Zeitspanne zwischen dem Tod und der Gewebeentnahme kontaminiert haben. Es hat ja keiner mit ihnen gerechnet und dementsprechend keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
Sie wiederholte ihre Untersuchungen in gesunden Mäusen, denen das Organ sofort nach dem Tod entnommen und zügig Präparate hergestellt wurden. Und sie fand Bakterien.
Sie wiederholte die Experimente mit keimfreien Mäusen, die keinerlei Mikrobiome trugen. Keine Bakterien. Keine Hausnummern, ein echter Befund.
Christopher Power vermehrt bakterielle DNA aus Gehirngewebe
Eine andere Gruppe um Christopher Power untersuchte Hirngewebe von gesunden und an HIV verstorbenen Patienten. Es ist bekannt, dass HIV die Blut-Hirn-Schranke schwächt und sie wollten sehen, ob sie irgendwelche Unterschiede in den Gehirnen der Verstorbenenfinden würden.
Die Forschenden vermehrten und sequenzierten DNA aus den Gewebeproben und konnten 173 Sequenzen identifizieren, die nicht vom Menschen, sondern Bakterien und Bakteriophagen (Viren, die Bakterien befallen) finden.
Bei den Bakterien dominierten α-Proteobakterien der Gattung Sphingomomonas. Das passt, denn wie der Name schon ahnen lässt, produzieren mehrere Angehörige dieser Familie Sphingolipide, die sie in ihre eigene äußere Hülle einbauen, die aber vor allem auch in Nervengewebe vorkommen.
Neben den α-Proteobakterien fanden die Forschenden noch Actinobacteria in größeren Mengen. Firmicutes, die im Darm oft die größte Fraktion stellen, fanden sie nicht.
Richard Lathe findet eine bemerkenswerte Komplexität an Leben im Gehirn
Und dann ist da noch das Manuskript von Richard Lathe vom Februar 2023. Lathe ist ein angesehener Molekularbiologe, hatte schon mehrere Professuren und beschäftigt sich mit der Alzheimer Demenz. In letzter Zeit geht man davon aus, dass zu der Krankheit auch bakterielle Infektionen beitragen können. Das Protein, das die fatalen Plaques im Gehirn der Patienten bildet, hat antimikrobielle Aktivität.
Mit der eToL Methode will er in gesunden Gehirnen alle möglichen Lebensformen entdeckt haben: Pilze, Bakterien, Chloroplastida (einzellige Eukaryonten mit Chloroplast), Archaea (sowas ähnliches wie Bakterien), Amöben und sogar mehrzellige Tierchen.
eToL steht für electronic tree of life. Dabei werden kurze, nur 64 Bausteine lange Sequenzen mit der Probe „hybridisiert“. Diese Sequenzen sollen eindeutig sein, passen sie mit der Probe zusammen, kleben sie aneinander und wenn es klebt, ist der betreffende Organismus, von dem die Sequenz stammt, als in der Probe anwesend identifiziert. Als Vorteil dieser Methode gibt Lathe eine enorme Arbeitsersparnis an. Könnte aber sein, dass das auf Kosten der Genauigkeit geht, wenn man betrachtet, was er alles gefunden haben will.
Natürlich musste er sich auch der Frage stellen, ob es sich nicht um Kontaminationen handeln könnte oder Infektionen, die um den Todeszeitpunkt stattfanden, wenn die Schutzfunktionen schon nachließen.
Das konnte er ausschließen. An der Probennahme und Behandlung war nichts auszusetzen, verschiedene Proben lieferten unterschiedliche Ergebnisse. Sehr schwache Signale wurden aus den Ergebnissen gestrichen. Experimente mit keimfreien Mäusen lieferten keine Ergebnisse. Alle Proben wurden auf die gleich Weise von denselben Leuten behandelt und ergaben doch bis zu 500fach starke Ergebnisse.
Und was fand er genau?
Er verglich die Mikrobiome von Darm und Hirn und fand, dass so gut wie keine Arten exklusiv im Gehirn vorkamen. Zwanzig Prozent der Arten, die er im Darm fand, fand er auch im Gehirn. Eine Teilmenge des Darm-Mikrobioms. Vielleicht, weil nur wenige Bakterien den Trick kennen, wie man ins Gehirn eindringen kann.
Er fand auch, dass die Bakteriendichte mit dem Alter zunimmt. Zwischen den Proben von Gesunden und Alzheimer-Patienten fand er keine Unterschiede in der Zusammensetzung. Manche Arten waren bei Alzheimer-Patienten aber stark, etwa 13fach, überrepräsentiert. Darunter verschiedene Hefen und Cortinarius – ein Ständerpilz, den man aus dem Wald kennt. Nun ja.
Aber immerhin: Unter den Bakterien findet er das α-Proteobakterium Sphingomanas, genau wie Christopher Power.
Das Manuskript wurde meines Wissens bisher nicht akzeptiert und veröffentlicht.
Ein Hirn-Mikrobiom?
Ein weiterer Kritikpunkt am Konzept des Hirn-Mikrobiom ist, dass alle Proben unweigerlich geringe Spuren von Blut enthalten. Und dass Bakterien im Blut existieren können, bis zu 107 Zellen pro Milliliter, ist wohl erwiesen.
Andererseits sind Bakterien im Hirn auch keine große Sensation. Infektionen des Gehirns sind nicht ausgeschlossen und bei vielen neurodegenerativen Krankheiten finden sich Bakterien im Gehirn. Man geht dabei von einem Pathobiom aus – Bakterien, die unmittelbar mit der Erkrankung zu tun haben, auch wenn man noch nicht weiß, ob sie Auslöser oder Folge der Entwicklung sind. Bakterien, die friedlich im gesunden Gehirn leben, wären allerdings tatsächlich eine Sensation.
Das Hirn-Mikrobiom bei neurodegenerativen Erkrankungen
- Bei Alzheimer findet man oft Chlamydien in verschiedenen Zelltypen des Gewebes. Borrelien halten sich gerne in der Nähe der Amyloid-Plaques auf und man nimmt an, dass diese Bakterien die Freisetzung entzündungsgfördernder Zytokine fördern. Sogar das Magenbakterium Helicobacter bringt man mit Alzheimer in Verbindung. Helicobacter setzt OMVs (outer membrane vesicles) ab, die es wahrscheinlich über die Blut-Hirn-Schranke schaffen. Wenn sie erst einmal im Gehirn sind, können sie in verschiedene Zelltypen eindringen.
- Bei der Parkinson Krankheit besiedeln oft Streptococcus, Pseudomonas und Cutibacterium acnes verschiedene Bereich des Gehirns.
- ALS, Amylotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, ist die häufigste Nervenkrankheit weltweit. Hier findet man oft Pilz-Antigene in der Cerebrospinalflüssigkeit. Und auch verschiedene Bakterien: Cutibacterium acnes, Corynebacterium, Fusobacterium nucleatum und Lawsonella clevelandesis und Streptococcus thermophilus, eigentlich ein Probiotikum.
- Multiple Sklerose ist eigentlich als Autoimmunerkrankung angesehen. Aber die Patienten tragen im Vergleich zu Gesunden deutlich mehr mikrobielle Last in ihrem Nervensystem. Vor allem Proteobakterien, die wahrscheinlich entzündungsfördernd wirken.
- Huntington – der Veitstanz, eine Erbkrankheit, die durch unkontrollierte Bewegungen bei gleichzeitig erschlafften Muskeln gekennzeichnet ist, verzeichnet auch mikrobielle Spuren in verschiedenen Regionen des Hirns: Pseudomonas, Cutibacterium, Escherichia coli, Acinetobacter und Burkholderia
Wie kommen die Bakterien ins Gehirn?
Eigentlich ist das Gehirn ja durch die Blut-Hirn-Schranke vor eindringenden Krankheitserregern, Toxinen und Botenstoffen geschützt. Sie grenzt die Flüssigkeitsräume des Blutkreislaufs und zentralen Nervensystems voneinander ab. So erhält das Gehirn ein eigenes Milieu, das durch spezielle Transportsysteme im Endothel der Blut-Hirn-Schranke geregelt wird. Für kleine Moleküle, wie Toxine oder Neurotransmitter scheint diese Definition auch zuzutreffen. Ganz Zellen scheinen dagegen den ein oder anderen Schleichweg zu kennen.
Es gibt mehrere Wege, auf denen Bakterien die Blut-Hirn-Schranke überwinden können.
- Sie binden an Rezeptoren und nutzen die zugehörigen Transportmoleküle.
- Die Blut-Hirn-Schranke schirmt eigene migrierende Körperzellen, wie Makrophagen, nicht ab. Im Inneren dieser Zellen können Bakterien wie in einem Trojanischen Pferd ins ZNS gelangen.
- Das Gehirn ist von der Außenwelt nicht abgeschottet. Es besitzt mit den Augen und Geruchsepithel direkten Kontakt zur Umwelt. Mikroorganismen können Nervenzellen direkt infiltrieren und im Inneren der Zelle, über die Axone (die langen Zellfortsätze, die die Signale weiterleiten) und Synapsen transportiert werden. Der Vagusnerv, der das Verdauungssystem mit dem ZNS verbindet könnte eine regelrechte Bakterienautobahn darstellen.
- Die Blut-Hirn-Schranke hat Lücken. Circumventriculärer Organe sorgen für Austausch zwischen Blut, Hirnwasser und Neuronen. Sie sind die „Fenster des Gehirns“, die pfiffige Mikroorganismen nutzen und eindringen. Trypanosoma, der Erreger der Schlafkrankheit, ist so ein Einbrecher, allerdings kein Bakterium.
- Entzündungen oder Verletzungen schwächen die Blut-Hirn-Schranke. Bakterielle Toxine, wie zum Beispiel LPS, Lipopolysaccharid, aus der Zellwand von (nicht nur) Proteobakterien oder fremde DNA stören die Blut-Hirn-Schranke stark.
- Manche Bakterien regen die Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke zur „Makropinozytose“ an. Das ist die unspezifische Aufnahme von größeren Mengen an Flüssigkeiten, mit all ihren Inhaltsstoffen. Wenn Bakterien dabei sind, sind sie mit drin.
So sieht’s aus:
Das Hirn-Mikrobiom ist bislang nicht viel mehr als ein Phantom, ein Konzept, das in den Kinderschuhen steckt. Selbst die Forschenden scheinen ihren Ergebnissen nicht ganz zu trauen. Ein Hirn-Pathobiom gilt als erwiesen. Dass Bakterien im Gehirn auch als Kommensale existieren könnten ist dagegen so gewöhnungsbedürftig, wie die Vorstellung, die Erde sei ein Würfel.
Quellen:
Link CD. Is There a Brain Microbiome? Neurosci Insights. 2021 May 27;16:26331055211018709. doi: 10.1177/26331055211018709. PMID: 34104888; PMCID: PMC8165828.
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Lathe, Richard, and David St Clair. “From conifers to cognition: Microbes, brain and behavior.” Genes, brain, and behavior vol. 19,8 (2020): e12680. doi:10.1111/gbb.12680
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